Zehn wichtige BAG-Entscheidungen 2022
Jeder in der Arbeitsrechtswelt hat auf die Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung gewartet. Aber auch Verjährung von Urlaub, Versetzungen und Corona-Maßnahmen haben das BAG im Jahr 2022 beschäftigt. Hier die wichtigen Entscheidungen:
Urlaub bis in alle Ewigkeit
Urlaub verjährt nur, wenn der Arbeitnehmer vorher auf seinen Urlaubsanspruch hingewiesen wurde. Und Unionsrecht geht nationalem Recht vor. Mit seinem weitreichenden Urteil setzt das BAG zwingende Vorgaben des EuGH um. Von Michael Fuhlrott.
Chef-SMS muss in der Freizeit nicht gelesen werden
Wenn der Chef in der Freizeit per SMS über Dienstplanänderungen informiert, darf nicht damit gerechnet werden, dass der Arbeitnehmer die Nachricht liest, entschied das LAG Schleswig-Holstein.
Geringfügigkeit ja, aber bitte nicht beim Stundenlohn
Minijobber schlechter zu bezahlen als Vollzeitkräfte, weil man mit letzteren angeblich besser planen könne, lässt das BAG nicht durchgehen. Moritz Coché analysiert, wie das Urteil für die Arbeitsrechtspraxis zu verstehen ist.
Equal Pay ist keine Verhandlungssache
„Der hat eben besser verhandelt“ zählt für Arbeitgeber als Begründung nicht mehr: Eine Frau hat laut BAG auch dann einen Anspruch auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, wenn der männliche Kollege sein Gehalt besser verhandelt hat.
Tägliche Ruhezeit unabhängig von wöchentlicher
Die tägliche Ruhezeit und die wöchentliche Ruhezeit sind zwei autonome Rechte von Beschäftigten. Die danach jeweils vorgeschriebenen Zeiten müssen unabhängig voneinander eingehalten werden, urteilte der EuGH.
Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung besteht auch jetzt schon
Das BMAS hat den lange erwarteten Entwurf zur Arbeitszeiterfassung vorgelegt. Diese ist aber längst schon Pflicht, die geplanten Regelungen bergen keine Überraschungen, sagt Michael Fuhlrott im Interview.
Die Auswirkung des Coronavirus auf das Arbeitsverhältnis
Die 12 wichtigsten Fragen
1. Haben Arbeitnehmer Anspruch auf Vergütung, wenn der Arbeitgeber wegen Corona von der Arbeit freistellt?
Ja. Bei einer Freistellung durch den Arbeitgeber behalten Arbeitnehmer immer ihren Vergütungsanspruch.
2. Besteht ein Vergütungsanspruch, wenn Arbeitnehmer aus Furcht vor einer Corona-Ansteckung von sich aus zu Hause bleiben?
In diesem Fall verlieren die Arbeitnehmer den Vergütungsanspruch. Sie tragen grundsätzlich das sog. Wegerisiko. Auch wenn man im Winter den Betrieb nicht erreichen kann, verlieren Arbeitnehmer gem. § 326 Abs. 1 BGB den Entgeltzahlungsanspruch. Ähnliches gilt auch bei einem Smogalarm.
Bleiben Arbeitnehmer zu Hause, fehlen sie überdies unentschuldigt. Ein allgemeines Leistungsverweigerungsrecht besteht auch bei drohenden Pandemien nicht. Das Fehlen kann bis zu einer Abmahnung oder Kündigung führen.
3. Haben Arbeitnehmer einen Anspruch auf Arbeit im Home-Office?
Ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht der Arbeitnehmer dergestalt, zu Hause arbeiten zu können (Home-Office) existiert nicht. Auch in diesem Fall läge – wenn der Arbeitnehmer zu Hause bleibt – eine Arbeitspflichtverletzung vor, die überdies auch zum Wegfall des Entgeltzahlungsanspruchs führt.
Natürlich können sich die Parteien einvernehmlich darauf verständigen, das Arbeitnehmer vorerst von zu Hause arbeiten. Das setzt aber Einvernehmen voraus.
Bestehen schon Home-Office-Regelungen im Betrieb, wird der Druck auf Arbeitgeber steigen, diese zumindest vorübergehend auszudehnen.
Die Anforderungen an eine zulässige Vereinbarung eines Home-Office sind im Hinblick auf die Qualität der Arbeitsmittel oder des Arbeitsplatzes und in Bezug auf datenschutzrechtliche Aspekte recht hoch. Daher dürfte umgekehrt der Arbeitgeber auch nicht einseitig Home-Office anordnen können. Auch das spricht für einvernehmliche Lösungen.
4. Ist der Arbeitgeber zur Vergütung verpflichtet, wenn Corona für einen Auftrags- oder Rohstoffmangel sorgt?
Grundsätzlich trägt der Arbeitgeber das sog. Wirtschaftsrisiko. Das sind Fälle, in denen wegen Auftrags- oder Absatzmangel der Betrieb technisch weitergeführt werden kann, aber ein Arbeitsausfall eintritt. Ein solcher Fall liegt vor, wenn Lieferanten – z.B. aus China – ihre Vorprodukte nicht anliefern können und daher die Produktion ausfällt. Hier muss der Arbeitgeber weiterhin das Arbeitsentgelt zahlen. Dass er die (angebotene) Arbeitsleistung nicht verwerten kann – weil er keine Aufträge oder Vorprodukte aufgrund langer Lieferketten hat – fällt in sein Wirtschaftsrisiko.
5. Gilt bei einer Coronavirus-Erkrankung der übliche Anspruch auf Entgeltfortzahlung? Wie verhält es sich, wenn lediglich der Verdacht auf eine Ansteckung vorliegt? Besteht während einer Quarantäne Arbeitspflicht?
Ist der Arbeitnehmer am Corona-Virus erkrankt, hat er gem. § 3 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) wie jeder Arbeitnehmer den Anspruch auf Entgeltfortzahlung bei Erkrankungen für die Dauer von sechs Wochen. Teilweise sind diese Fristen arbeits- oder tarifvertraglich länger. Freie Mitarbeiter haben diesen Anspruch mangels Arbeitnehmereigenschaft nicht.
Der Ablauf ist ein anderer, wenn gegen den am Corona-Virus erkrankten Arbeitnehmer zugleich nach § 31 Satz 2 Infektionsschutzgesetz (IfSG) ein berufliches Tätigkeitsverbot angeordnet worden ist. Dann konkurriert der Entgeltfortzahlungsanspruch mit dem Entschädigungsanspruch des Arbeitnehmers infolge des Tätigkeitsverbotes nach § 56 Abs. 1 IfSG. Danach wird derjenige, wer als Ausscheider einer Infektion, als Ansteckungsverdächtiger, als Krankheitsverdächtiger oder sonstiger Träger von Krankheitserregern im Sinne des § 31 Satz 2 IfSG einem Verbot der Ausübung seiner Arbeitstätigkeit unterliegt, vom Staat in Höhe seines Verdienstausfalls für die Dauer von sechs Wochen entschädigt (so in § 56 Abs. 2 und Abs. 3 IfSG geregelt).
Dabei tritt der Arbeitgeber in Vorleistung, ist also quasi „Auszahlstelle“ für den Staat (§ 56 Abs. 5 Satz 1 IfSG). Die ausgezahlten Beträge werden vom Arbeitgeber auf Antrag bei der zuständigen Behörde (in Nordrhein-Westfalen und den meisten anderen Bundesländern sind dies die Bezirksregierungen) erstattet (§ 56 Abs. 5 Satz 2 IfSG). Die Erstattung erfolgt aber nur auf Antrag des Arbeitgebers. Ist der Arbeitgeber entgegen der gesetzlichen Pflicht nicht in Vorleistung getreten, kann auch der Arbeitnehmer diesen Antrag stellen (§ 56 Abs. 5 Satz 3 IfSG).
Nach h.M. geht wegen der öffentlich-rechtlichen Zwangswirkung das infektionsschutzrechtliche Beschäftigungsverbot der Erkrankung des Arbeitnehmers vor. Das gilt natürlich nur dann, wenn ein solches Beschäftigungsverbot in Bezug auf einen – erkrankten – Arbeitnehmer ausgesprochen worden ist. Dann soll es am Entgeltfortzahlungsanspruch fehlen, weil die Erkrankung nicht monokausal für den Ausfall der Arbeitsleistung war (so sieht es beispielsweise auch Greiner in Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band I, 4. Auflage 2018, § 80 Rn. 41, nicht unumstritten).
Besteht lediglich der Verdacht auf eine Ansteckung, besteht auch hier ein Entschädigungsanspruch gem. § 56 Abs. 1 Satz 1 IfSG, wenn ein behördliches Beschäftigungsverbot nach § 31 IfSG angeordnet worden ist. Das Tätigkeitsverbot kann sich auf einzelne Arbeitnehmer oder behördlich definierte Gruppen beziehen.
Kausal für die Arbeitsverhinderung ist dann nicht die vermutete Krankheit als solche, sondern das Beschäftigungsverbot. Damit besteht dann kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Häufig wird überdies ja noch nicht einmal eine Krankheit vorliegen, da nur ein Verdachtsfall besteht.
Die Fälle der Quarantäne (geregelt in § 30 IfSG) sind gleich zu behandeln: Hier wird infolge der Quarantäne ein Beschäftigungsverbot ausgesprochen werden. Dann besteht der Entschädigungsanspruch gem. § 56 IfSG. Erkrankt ist der unter Quarantäne stehende Arbeitnehmer nicht, so dass deshalb kein Anspruch aus Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bestehen kann.
6. Besteht bei einer behördlichen Betriebsschließung der Vergütungsanspruch der Arbeitnehmer?
Wird der Betrieb – z.B. auf der Grundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG – geschlossen, weil in Bezug auf den gesamten Betrieb oder Gruppen von Arbeitnehmern ein Infektionsrisiko besteht (Stadtverwaltungen, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Arztpraxen usw.), kann man die Grundsätze der vom RG im Jahre 1923 angewandten Betriebsrisikolehre anwenden.
Betriebsrisikofälle kennen wir bei der Unterbrechung der Energieversorgung, der Einwirkung von Naturereignissen, dem Ausbleiben von Rohstoffen oder dem Auftreten von Maschinenschäden und der daraus folgenden Einstellung oder Einschränkung des Betriebes. Ein Verschulden des Arbeitgebers liegt nicht vor.
Nach der Rechtsprechung trägt der Arbeitgeber dann das Betriebsrisiko infolge behördlicher Maßnahmen – also der Betriebsschließung – wenn dieses Risiko der behördlichen Maßnahme im Betrieb durch dessen besondere Art angelegt gewesen war. Es kommt also auf die Eigenart des Betriebes an.
Bei der Staatstrauer nach Hindenburgs Tod im Jahre 1934 behielten die Musiker einer Tanzkapelle ihren Entgeltanspruch. Dem Tanzlokal wohnte das Risiko solcher Schließungen wegen Staatstrauer inne. Der Arbeitgeber musste es tragen und Lohn zahlen.
Das BAG hat ähnliches 1963 anlässlich einer Landestrauer in Nürnberg entschieden.
Auch das Flugverbot aufgrund einer Aschewolke oder wegen eines auf einem einzelnen Betrieb bezogenen Verbots wegen Smogalarms ist vom Arbeitgeber zu tragen.
Wird ein Bankbetrieb aufgrund aufsichtsrechtlicher Maßnahmen der BaFin vorübergehend eingestellt, muss der Arbeitgeber den Lohn weiterzahlen
Nicht zum Betriebsrisiko gehören allgemeine Gefahrenlagen wie Kriege, Unruhen und Terroranschläge. Manche zählen dazu auch Epidemien (so Krause in HWK, Arbeitsrecht Kommentar, 8. Auflage 2018, § 615 BGB, Rn. 116).
Überträgt man die Grundsätze auf die Corona-Fallgestaltungen, liegt beispielsweise bei Hochschulen, bei denen notwendigerweise ein breiter Personenkontakt besteht, bei Kindertagesstätten, Schulen, allgemein zugänglichen öffentlichen Verwaltungen, bei Veranstaltungsunternehmen, bei Messen, bei Kaufhäusern usw. ohne weiteres die besondere Eigenart vor, dass Kontakt zu Menschen mit infektiösen Erkrankungen besteht. Ebenso ist es die Eigenart dieser Betriebe, dass eigene Mitarbeiter mit Menschen in Kontakt kommen, sich infizieren oder der Verdacht einer Infektion besteht und daher Betriebsschließungen ausgesprochen werden können. Das spricht aus meiner Sicht dafür, dass hier die Eigenart dieser Betriebe als das Betriebsrisiko des Arbeitgebers anzusehen ist, so dass der Arbeitgeber den Vergütungsanspruch der Arbeitnehmer weitertragen muss.
Diese Grundsätze dürften auch in Krankenhäusern, Arztpraxen usw. gelten.
Das gibt die klare Indikation, dass in jedem Fall die Entschädigungsansprüche nach § 56 IfSG von Seiten der Arbeitgeber bzw. der Arbeitnehmer geltend zu machen sind, um den Versuch der Risikobegrenzung zu unternehmen. Diesbezügliche Anträge sollten gestellt werden.
7. Besteht ein Anspruch auf Entschädigung, wenn Arbeitnehmern aufgrund Corona verboten wird, ihrer Erwerbstätigkeit nachzugehen?
Ja: Der Entschädigungsanspruch ist in § 56 Abs. 1 IfSG geregelt. Die Grundsätze sind oben bei Ziffer 5 dargestellt. Wichtig ist noch, dass der Arbeitgeber einen Vorschuss für die Entgeltzahlungen verlangen kann (so § 56 Abs. 12 IfSG), was insbesondere bei Kleinbetrieben interessant sein kann.
Zuschüsse des Arbeitgebers – die er ggf. freiwillig zahlt – sind zugunsten des Staates auf die Entschädigung anzurechnen (§ 56 Abs. 8 Satz 1 IfSG).
Anträge des Arbeitgebers auf Erstattung – der Arbeitgeber geht ja in Vorleistung – sind innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Einstellung der verbotenen Tätigkeit aufgrund Beschäftigungsverbots gem. § 31 IfSG oder dem Ende der „Absonderung“ (mit Absonderung ist die Quarantäne nach § 30 IfSG gemeint) bei der zuständigen Behörde (Bezirksregierung) zu stellen, so regelt es § 56 Abs. 11 Satz 1 IfSG.
Neben den Entschädigungsanspruch nach § 56 IfSG tritt noch ein Anspruch nach § 616 BGB, wenn der Arbeitnehmer für eine vorübergehend kurze Zeit aus persönlichen – also subjektiven – Gründen verhindert ist, die Leistung zu erbringen. Das kann bei Infektionen grundsätzlich der Fall sein, wie die ordentlichen Gerichte schon in den 60iger Jahren entschieden haben. Allerdings dürfte dies nur absolute Einzelfälle, wie etwa an Salmonellen erkrankte Metzgergesellen (ein Fall des BGH) oder Paratyphusfälle (ein Fall des LG Düsseldorf) betreffen.
Handelt es sich um ein Beschäftigungsverbot für ein Unternehmen in der Gesamtheit oder um eine allgemeine Pandemie, so liegt kein individuell in der Person liegendes Leistungshindernis vor (diesen Fall regelt § 616 BGB), sondern ein objektives Leistungshindernis. Dann dürfte die Norm nicht anwendbar sein. Das wird bei „allgemeinen Untersagungen des Geschäftsbetriebs“ der Fall sein. Allerdings befindet man sich hier im „Dickicht des Meinungsstandes zu § 616 BGB“. Diese Norm wird von einigen Autoren doch recht extensiv ausgelegt, von anderen wiederum auf die „echten“ in der Person des einzelnen Arbeitnehmers liegenden Leistungshindernisse beschränkt.
Das ist auch praktisch wichtig, Nach Auffassung sowohl des BGH als auch des LG Düsseldorf sind im Fall der weiter bestehenden Verpflichtung zur Entgeltzahlung aus § 616 BGB durch den Arbeitgeber die Entschädigungsansprüche gegen den Staat nach § 56 IfSG ausgeschlossen. Die Anwendung des § 616 BGB entlastet damit den Staat.
Genau diese Frage wird bei Entschädigungsbegehren gegen den Staat eine Rolle spielen. Arbeitgeber müssen demzufolge damit argumentieren, dass ein objektiver Verhinderungsgrund wegen der allgemeinen Pandemie bzw. allgemeinen Untersagung des Geschäftsbetriebes in Bezug auf Arbeitnehmergruppen ihres Unternehmens bestanden habe. Krause (in HWK, 8. Auflage 2018, § 616 BGB, Rn. 35, 17) sieht Epidemien als objektive Leistungshindernisse, die nicht vom Arbeitgeber einzukalkulieren und damit in der Vergütungsfortzahlung zu tragen sind.
7a. Besteht ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung, wenn Arbeitnehmer lediglich mittelbar wegen Corona ihrer Erwerbstätigkeit nicht nachgehen können?
Diese Konstellation tritt z.B. ein, wenn der Kindergarten coronabedingt vorübergehend schließt, die Eltern des Kindergartenkindes dessen Betreuung selbst organisieren müssen und es ihnen deshalb (zeitweise) unmöglich ist, ihre Pflicht zur Arbeitsleistung zu erfüllen.
Dies ist jedenfalls kein Fall, in dem ein Entschädigungsanspruch gem. IfSG in Betracht kommt. Der Arbeitgeber ist aber möglicherweise nach § 616 BGB zur Entgeltfortzahlung verpflichtet. § 2 Abs. 1 Pflegezeitgesetz entnimmt die herrschende Meinung, dass ein Zeitraum von bis zu zehn Tagen als eine „verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit“ im Sinne des § 616 Satz 1 BGB an-zusehen ist. Die Vorschrift wird allerdings so verstanden, dass ein Anspruch auf Entgeltfort-zahlung nur besteht, wenn (und nicht „soweit“) der Arbeitnehmer vorübergehend verhindert ist (vgl. Krause in HWK, 8. Auflage 2018, § 616 BGB, Rn. 37). Wird z.B. die Schließung des Kindergartens sogleich für zwei Wochen erklärt, besteht überhaupt kein Anspruch nach § 616 BGB.
Die Vorschrift ist im Übrigen abdingbar; ist im Arbeitsvertrag die Anwendung von § 616 BGB wirksam ausgeschlossen, muss der Arbeitgeber eine Entgeltfortzahlung nach dieser Vorschrift nicht befürchten.
Besteht ein Anspruch gem. § 616 BGB nicht, so können die betroffenen Arbeitnehmer weder auf „Pflegeunterstützungsgeld“ gem. § 44a Abs. 3 SGB XI noch auf „Krankengeld wegen Er-krankung des Kindes“ gem. § 45 SGB V hoffen – denn das Kind selbst ist ja weder krank noch pflegebedürftig (vgl. § 7 Abs. 4 PflegeZG in Verbindung mit §§ 14, 15 SGB XI).
8. Welche Vorsichtsmaßnahmen muss der Arbeitgeber in Bezug auf Corona / COVID-19 einleiten?
Jeden Arbeitgeber treffen arbeitsrechtliche Schutzpflichten, insbesondere die Pflicht zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer.
Praktische Maßnahmen sind die Bereitstellung von Desinfektionsmitteln an geeigneten Standorten (Eingang, Toiletten), Hinweise zu deren Benutzung und verstärktes Hinwirken auf die Einhaltung der Hygienestandards.
Inwieweit Arbeitgeber selbst initiierte Präventivmaßnahmen der Mitarbeiter dulden müssen, hängt von den Umständen ab. Es bedarf einer Interessenabwägung (§ 315 Abs. 3 Satz 1 BGB). Besteht eine erhöhte Infektionsgefahr durch regelmäßigen Kontakt mit potentiell infizierten Personen, wie beispielsweise in der medizinischen Versorgung oder am Flughafen, wird der Arbeitgeber Schutzmaßnahmen wie z.B. Mundschutz dulden müssen.
Gegen ein Verbot des Arbeitgebers Mundschutz zu tragen, hatte sich der Betriebsrat des Betreibers von Duty-Free-Shops an Berliner Flughäfen gewandt. Dort hatte der Arbeitgeber zunächst untersagt, während der Arbeit – insbesondere bei Ankunft von Flügen aus China – Mundschutz und Handschuhe zu tragen. Bevor über die Reichweite des Mitbestimmungsrechts gem. § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG entschieden werden konnte (Arbeitsgericht Berlin 55 BV Ga 2341/20, LAG Berlin-Brandenburg PM 12/20 v. 04.03.2020) hatte der Arbeitgeber nachgegeben und schriftlich erklärt, Beschäftigte könnten bei der Arbeit Mundschutz und Handschuhe tragen, falls sie dies wollen. Sicherlich in der konkreten Gefährdungssituation eine richtige Entscheidung, die auch der an Billigkeit orientierten Weisungsbefugnis hinsichtlich Ordnung und Verhalten (§ 106 Satz 2 GewO) entspricht.
Spannender ist die Frage, ob und wann der Arbeitgeber Arbeitnehmer bei abstrakten oder konkreten Verdacht der Infektion freistellen kann. Bei der Freistellung durch den Arbeitgeber behält der Arbeitnehmer zwar den Vergütungsanspruch. Der Arbeitnehmer hat jedoch einen Beschäftigungsanspruch, so dass der Arbeitnehmer vielleicht nicht vom Arbeitsplatz entfernt werden mag. Besonders würde dies wohl gelten, wenn der Arbeitgeber sich einzelne Arbeitnehmer auswählt, ohne aus sachlichen Gründen zu differenzieren.
Arbeitgeber können aus sachlichen Gründen auch ohne vertragliche Vereinbarung im Rahmen der konkreten Gefährdung der Arbeitgeberinteressen zumindest kurzfristig freistellen. Es spricht – vor allem im Hinblick auf die gegenwärtige Unsicherheit – manches dafür, dass Arbeitgeber bei auf Tatsachen gestützten Verdachtsmomenten von einem sachlichen Grund ausgehen dürfen und freistellen können. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn einzelne Krankheitssymptome auftreten oder sich der Arbeitnehmer zuvor in einem Risikogebiet (vielleicht auch in Risikozonen, wie in der Karnevalssitzung in Gangelt/Heinsberg) aufgehalten haben.
Hat der Arbeitgeber Kenntnis von der Erkrankung, muss er den Mitarbeiter nach Hause schicken. Das gilt aber schon immer aufgrund der Fürsorgepflicht.
9. Gelten besondere Fürsorgepflichten für Arbeitgeber, die aus China, Italien oder einem anderen Gefahrengebiet zurückkehrende Arbeitnehmer beschäftigen?
Kehren Arbeitnehmer aus Risikogebieten (China, Italien, Iran usw. und weitere bundesdeutsche Risikogebiete) in den Betrieb zurück, wird man Arbeitgeber trotz der besonderen datenschutzrechtlichen Pflichten bei der Preisgabe personenbezogener Daten der Arbeitnehmer für verpflichtet halten, die anderen Arbeitnehmer darüber zu informieren (§ 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG und § 26 Abs. 3 Satz 1 BDSG im Krankheits- oder Verdachtsfall).
Sinnvollerweise sollten die zurückkehrenden Arbeitnehmer – zumindest von der Rückkehr aus China – für einige Tage freigestellt werden, ärztlich untersucht werden (Schnelltest), um eine Ansteckung auszuschließen. Da die Zeit bis zum Auftreten der Symptome 14 Tage betragen kann, genügt die Beobachtung in diesen besonderen Situationen nicht.
10. Dürfen Arbeitgeber anordnen, Dienstreisen in eines der Gefahrengebiete zu unternehmen?
Für die Gebiete, für die das Auswärtige Amt eine Reisewarnung herausgegeben hat, gilt, dass der Arbeitnehmer der Anweisung dorthin zu fahren, nicht Folge leisten muss. Eine solche Anweisung dürfte nicht mehr dem billigen Ermessen nach § 106 GewO entsprechen. Es überwiegt das Interesse des Arbeitnehmers am Schutz seiner Gesundheit.
11. Können Arbeitgeber aufgrund von Corona Kurzarbeitergeld beantragen? Wie müssen Arbeitgeber vorgehen?
Liegt Auftrags- und Rohstoffmangel vor, trägt der Arbeitgeber grundsätzlich das Wirtschaftsrisiko.
Die Bundesagentur für Arbeit hat – zuletzt in einer Pressemitteilung vom 28.02.2020 – darauf hingewiesen, dass ein aufgrund oder infolge des Corona-Virus und/oder der damit verbundenen Sicherheitsmaßnahmen eingetretener Arbeitsausfall im Regelfall auf einem „unabwendbaren Ereignis“ oder auf „wirtschaftlichen Gründe“ im Sinne des § 96 Abs. 1 Nr. 1 SGB III beruht und daher Kurzarbeitergeld bei vorübergehendem Arbeitsausfall zu gewähren ist.
Ausdrücklich wird dies konkretisiert für den Fall, dass „staatliche Schutzmaßnahmen dafür sorgen, dass der Betrieb vorübergehend geschlossen wird.“ Daher kann der Arbeitsausfall mit Hilfe des konjunkturellen Kurzarbeitergeldes damit grundsätzlich Höhe des Kurzarbeitergeldes kompensiert werden.
Wichtig ist, dass Betriebe und Unternehmen die Kurzarbeit anzeigen und auch entsprechende Anträge stellen. Ohne Antrag kein Kurzarbeitergeld. Ich empfehle die Lektüre der Seiten der Bundesagentur für Arbeit.
Arbeitsrechtlich setzt die Kurzarbeit voraus, dass entweder eine entsprechende Kurzarbeitsklausel im Arbeitsvertrag enthalten ist, Kurzarbeit durch Tarifvertrag ermöglicht wird oder – was der praktisch der häufigste Fall sein wird – über Kurzarbeit eine Betriebsvereinbarung mit dem Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG abgeschlossen wird.
Denkbar ist auch, dass zunächst Überstundenguthaben abgebaut werden, wobei auch hier die individualrechtliche Anordnungsbefugnis und/oder die Mitbestimmung des Betriebsrats zu beachten ist.
Zumindest nach dem bisherigen Stand besteht kein Anspruch auf Kurzarbeitergeld, wenn das Unternehmen aus freier Entscheidung zur Risikominimierung beschließt, den Betrieb vorübergehend einzustellen. Es liegt keine ursächliche Veranlassung durch Corona vor. Der Arbeitgeber bleibt zur Zahlung der vollen Vergütung verpflichtet, ohne Kurzarbeitergeld nutzen zu können.
12. Mit welchen Leistungen können Arbeitgeber beim Kurzarbeitergeld rechnen? Was ist in Bezug auf Leistungen aus dem Infektionsschutzgesetz zu beachten?
Die Leistungen aus dem Kurzarbeitergeld bleiben hinter denen des Entschädigungsanspruches nach § 56 Abs. 2, 3 IfSG, der für die Dauer von sechs Wochen den Verdienstausfall und damit das volle Arbeitsentgelt gewährt, zurück.
Die Arbeitnehmer ihrerseits erhalten lediglich 60% der Nettoentgeltdifferenz bzw. bei einem überhöhten Leistungssatz nach den Vorschriften über das Arbeitslosengeld 67%. Inwieweit sich Arbeitgeber zur Aufstockung verpflichten, ist deren Entscheidung oder Verhandlungsergebnis mit dem Betriebsrat.
Auch der Arbeitgeber wird nicht vollständig entlastet, da er weiterhin zur Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge auf das gesamte Entgelt verpflichtet ist.
Erhält der Arbeitnehmer wegen eines behördlichen Beschäftigungsverbotes Entschädigung nach § 56 IfSG, geht der Anspruch auf Entschädigung gegen den Staat bei Gewährung von Arbeitslosengeld oder Kurzarbeitergeld auf die Bundesagentur für Arbeit über. So regelt es § 56 Abs. 9 IfSG. Die Versichertengemeinschaft soll also gegenüber staatlichen Entschädigungsansprüchen entlastet werden.
Quelle:
Rechtsanwalt Dr. Detlef Grimm (Rechtsanwaltskanzlei Loschelder, Köln)
unter: https://www.juris.de/jportal/nav/juris_2015/aktuelles/magazin/coronavirus-arbeitsrecht.jsp
Muster Betriebsvereinbarung Kurzarbeit
Gestaltungsraster DV Kurzarbeit
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